Geschundenes Mariupol , geschundene „Sowjet-Deutsche“
1941
Der Ausbruch des 2. Weltkrieges traf die Familie wie ein Paukenschlag.
Noch mehr nach dem Überfall der Deutschen in die Sowjetunion am
22. Juni 1941 mit dem Codenamen `Unternehmen Barbarossa´. Die
deutschen Panzerverbände der Heeresgruppe Don schossen alles
zusammen, was sich ihnen in den Weg stellte. Blitzkrieg eben. Die sowjetischen
Einheiten waren wie paralysiert und ergaben sich zu Tausenden
in den sicheren Hungertod. Den Aggressor Hitler brauche er, Stalin,
jetzt am allerwenigsten auf sowjetischem Boden. Hatten sie sich
nicht erst kürzlich Polen gemeinsam geteilt und waren sich weitgehend
einig? Doch standen die deutschen Kampfverbände mit ihren Verbündeten
bereits vor den Toren Mariupols. Das war nun mal Fakt. Durch
zähes Ringen wurden die Krim und Kertsch von der 11. Armee des
Generalobersten v. Manstein Anfang Juli 1942 nach schweren Kämpfen
genommen.
Als weiteren Schuldigen fand der sowjetische Führer neben dem Aggressor
Nazideutschland auch einen inneren Feind. Eine bestimmte
Volksgruppe hatte er schwer im Visier. Wie sein Amtsvorgänger Lenin
waren es für Stalin wieder einmal die Einwanderer aus Deutschland.
Geplagt von Panik trieben die Bolschewiken alle männlichen Personen
in den deutschen Ansiedlungen zusammen. Unter anderem den Vater
von Arthur. Ihn wollten sie zwingen, die Elektrostation, seine Arbeitsstelle,
in die Luft zu jagen. Doch er weigerte sich. Er war von hier,
Ukrainer und liebte seine Heimat über alles. Diese riesige Anlage hatte
Arthurs Vater mitentworfen und von Anfang an zusammen mit den
„Genossen“ jahrelang aufgebaut. Seine Ideen, sein Werk, das sollte er
als Ukrainer in die Luft jagen? Njet, war seine knappe Antwort. Die
Bolschewiken machten kurzen Prozess. Er wurde in das politische Gefängnis
geschleppt. Seine Frau Helene mit Sohn Arthur besuchte ihn
nach tagelangem Erbitten der Besuchergenehmigung. Beim Besuch war
seine einzige Bitte eine Zigarette. Er sah schlimm aus. Eingefallenes
Gesicht, verzweifelte, traurige Augen. Zwei weitere, lange Wochen
dauerte das Martyrium. Mit 400 anderen Gefängnisinsassen wurde er
aus dem Verlies Mariupols auf Lkw-Pritschen getrieben, in ein Waldstück
gefahren und allesamt erschossen. Zusammengestapelt wurden
Leichenhaufen mit Benzin übergossen und angezündet. Zum Verscharren
der Leichen hatten die feigen Meuchelmörder keine Zeit mehr gefunden
und verschwanden in das sichere Hinterland. Arthurs Mutter
Helene suchte mit anderen Angehörigen im Dreck oder zwischen den
verkohlten Leichen nach ihrem geliebten Mann. Doch vergeblich. Die
Massakrierten waren zum Teil zu sehr entstellt. Sie fanden ihn nicht.
Arthur weinte und heulte tagelang um seinen Vater. Eine Frage quälte
ihn wieder und wieder: Was hat er denn nur Schlimmes getan? Nichts.
Gar nichts. Dies geschah wenige Stunden vor Einmarsch der deutschen
Panzerspitzen. Arthur sagte energisch zu seiner Mutter: „Wären sie
doch einen halben Tag früher hier gewesen, dann hätten sie bestimmt
Vater und die anderen befreit und die bösen Bolschewiken erschossen.“
Viele Deutschstämmige aus der Wolgarepublik, der südlichen und
westlichen Ukraine sind nach Sibirien, Mittelasien oder hinter den
Ural deportiert worden, wo sie mehr als Vieh denn als Mensch behandelt
wurden. Stimmt so auch nicht, denn Viecher behandelten die
Bolschewiken besser, die kann man wenigstens verwerten. Die meisten
der `Sowjetdeutschen´ endeten in den berühmt-berüchtigten Gulags.
1941 hatte die deutsche Wehrmacht mit ihren rumänischen Verbündeten
die ganze Ukraine unter ihrer Kontrolle. Der Südteil der Ukraine
wurde in Transnistrien umbenannt.
Entgegen der NS-Propaganda, welche vor den „Bolschewiken deutscher
Abstammung“ unverblümt warnte, wurde die Wehrmacht mit Musik
und Fahnenschwenken vielerorts empfangen. Odessa wurde Hauptstadt
von Transnistrien. Das alles unter rumänischer Verwaltung, mit
Ausnahme der deutschen Ansiedlungen, welche unter der `Volksdeutschen
Mittelstelle´ und der SS standen. Keiner konnte nur erahnen,
dass die Nazi-Strategen daran dachten, die „verbolschewikten Russland-
Deutschen“ auszumerzen.
Mystisches, kurzlebiges Transnistrien
In Mariupol wurden sofort alle öffentlichen Ämter und Behörden von
den Wehrmachtsangehörigen besetzt. Jede Menge Siedlungsdeutsche
und deutschsprachige Ukrainer meldeten sich und unterstützten so die
Wehrmachtssoldaten sowie die Waffen-SS, später auch die berüchtigte
Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei, welche der kämpfenden Truppe
nachrückten. Im Schulhof von Arthur wurde eine Abteilung Gebirgsjäger
untergebracht und Arthurs Mutter bekochte sie. Die Soldaten
waren nett und Arthur trieb sich gerne bei ihnen herum. Sie hatten sich
zwei Tage den Luxus einer Ruhepause gegönnt. Aber nur deshalb, weil
der Nachschub ins Stocken geriet. Leider mussten sie bald weiter an
die Front. Arthurs Mutter hatte einen Job als Grundschullehrerin und
wurde nach dem Unterricht bei der Wehrmacht als Dolmetscherin eingesetzt.
Nicht nur deutsche Truppen waren anwesend, auch rumänische
Armeeangehörige wurden in Mariupol einquartiert. Mit einem rumänischen
Übersetzer freundete sich Arthur an. Er war um die 40 Jahre
alt und stets elegant gekleidet. Anzug mit Krawatte, einen Schnurrbart,
schicken Hut und sehr gebildet. Er trug keine Uniform. Seinen Wirkungskreis
hatte er in der Kommandantur. Was seine Tätigkeit war oder
womit er genau sein Geld verdiente, konnte Arthur nicht in Erfahrung
bringen. Beide nutzten ihre Freizeit und hirnten gerne bei Schach. Dabei
achtete Arthur jedoch genau darauf, dass der Rumäne mit dem Namen
Dumitru ihm nicht auf seine Finger schauen konnte. Nach jedem Zug
versteckte Arthur seine Hände sofort unter dem Tisch. Er hatte viele,
große, eklige Warzen an den Fingern und natürlich schämte er sich dessen.
Dies blieb freilich dem eleganten Schnurrbartträger nicht verborgen.
Arthurs Mutter sprach diese persönliche Problematik auch noch an,
als sie merkte, dass sich der Rumäne Dumitru für seine Warzen interessierte.
Obwohl es seine waren und die hatten nur ihn was anzugehen.
Peinlich genug. Die Mutter bat Arthur artig, die Hände hinter seinem
Rücken hervorzunehmen und diese dem freundlichen Herrn zu zeigen.
Unter Murren tat er es auch schließlich. Er schaute Arthur ins Gesicht
und fragte den erröteten Kopf: „Arthur, willst du, dass ich dir diese
Dinger da für immer entferne? Doch wie, das möchtest du doch sicherlich
wissen? Na gut, ich sage es dir. Es muss bei Vollmond passieren.
Eine geschlossene Wolkendecke darf uns dabei nicht stören. Du
musst es aber von dir aus selbst wollen. Willst du?“ Arthur bejahte mit
gesenktem Haupt, aber in gespannter Erwartung. Es war ihm zutiefst
unangenehm, doch wollte er diese blöden Warzen natürlich loswerden.
So wartete Arthur mit seiner Mutter geduldig diesen Termin ab und gemeinsam
mit dem eleganten Rumänen begaben sie sich nachts auf eine
Anhöhe außerhalb der Stadt. Sie hatten Glück, es war wolkenfrei und
ein großer Vollmond zwinkerte freundlich auf die kleine Gruppe hinunter.
Mystische Spannung lag in der Luft. Unter ständigem Murmeln
in einer Sprache, die weder Arthur noch seine Mutter je gehört hatten,
umband er die Warzen mit weißen Fäden. Dann hielt er kurz inne.
Murmelte noch drei, vier undefinierbare Sätze und das war’s. Arthur
musste denken, was der Hokuspokus denn solle. Doch als er morgens
aufwachte, waren die lästigen Warzen allesamt verschwunden. Lediglich
helle Flecken waren Zeugen, dass sich da mal was Unangenehmes
befand. Eindrücke, die man sein Leben lang nicht vergaß. Den eleganten
Dumitru sahen sie nie wieder.
Es stellte sich während dieser Tage unter der Besatzung der Achsenmächte
eine gewisse Normalität ein. Man fühlte sich eigentlich das
erste Mal seit weiß Gott wie lange endlich mal sicher, meinte die Mutter
einmal. Auf der Straße spielten Arthur und seine Kumpels Zurka,
ähnlich wie Baseball. Jedoch, statt einem Baseball aus Leder hatten die
Jungs nur einen zusammengeknoteten Stoffballen zur Verfügung. Andere
Straßenspiele zu dieser Zeit waren `Fuchsen´, dabei war derjenige
Sieger, welcher seine Münze in einem genau vorgesehenen Kreis am
nächsten hinschnipste. Betak war ein ähnliches Münzspiel. Die frische
Luft machte die jugendlichen Gemüter hungrig. In der Nachbarschaft
befand sich ein Gasthaus namens `Ostiniza´. Da roch es intensiv und
gut nach leckerem, warmem Essen. Die Jungs klebten ihre Nasen an
das große Fenster. Jeder wusste, dass das unerreichbare Genüsse waren,
welche sich so angenehm in die Nasenöffnungen reinschlichen. Es gab
dort einfache Übernachtungsmöglichkeiten für Reisende, denen die
Möglichkeit gegeben wurde, sich vor dem Schlafengehen hauseigene
Köstlichkeiten einzuverleiben. Die Gäste hatten eben Geld und die
kleinen Strolche keines. Dem Chef des Hauses – ein runder, untersetzter
Wirt mit schmierigen, glatten Haarsträhnen – passten die gaffenden Gesichter
an den Fenstern gar nicht und so wurden diese öfters unter Androhung
und Schwingen eines mächtigen Holzlöffels davongescheucht.
Die Gruppe Jugendlicher nahm Reißaus, hinterher der dicke Wirt mit
dreckiger Schürze und großem Holzlöffel. Es war keine große Kunst,
diesen schweißigen Fettkloß abzuwimmeln. Sie kickten sich mit einer
Blechdose zu, während sie weiter die Straße entlangschlurften. An der
Hauptstraße gab es eine gut besuchte, aber kleine Bierkneipe. Hier
wurde alles im Stehen zu sich genommen. Es herrschte reger Barbetrieb,
als die Kumpels ihre Meckel da reinsteckten. Kleine Snacks wie panierte
Hähnchenschlegel mit scharfer Sauce, Schaschlik und frittierter Fisch
wurden da angeboten. Es gab Bier und Wodka oder Wein und Weinbrand
von deutschstämmigen Winzern von der Krim. Die Essensreste
wurden einfach auf den Boden geworfen, die Asche und die Kippen
der Zigaretten sowieso. Gereinigt wurde mit Sägemehl, welches auf
dem Boden ausgestreut wurde. Dort blieb es ein Weilchen liegen und
wurde später wieder zusammengekehrt und entsorgt. Ein rundlicher,
nett dreinschauender Kneiper, die Herkunft seiner Ahnen war irgendwo
bei Leipzig, was man durchaus noch heraushörte, hatte das Sagen und
man wusste gleich, wer der Chef war. Die Jugendlichen konnten
hier hin und wieder die eine oder andere Kopeke sich verdienen. Mal
als Putze, mal als Küchenschabe, bestenfalls als Gläserspüler an der verqualmten
Bar. Das war der beste und beliebteste Job. Man kam so in
den Genuss zu hören, was in der Welt so geschah, und es regte ungemein
das Fernweh an. Darauf spekulierten sie auch an diesem Tage.
Heute waren aber nur wenige Hafenarbeiter und ein paar Wehrmachtssoldaten
anwesend. Der Kneiper mit seinen Bartstoppeln und seinem
Küchentuch um seinen runden Bauch gab zu verstehen, dass es heute
nichts zu arbeiten gab. Die Jungs verschwanden aus der mit Zigarettenqualm
verhangenen Bar auf die Straße. Vor dem Konsum angekommen,
standen Menschen wie immer in einer langen, wartenden Schlange. Sie
warteten vor dem Einkaufsladen geduldig, bis ein jeder das hatte, was
er wollte oder auch nicht. Früher kaufte man alles, was es gab. Brot
oder Krawatten, Kartoffeln oder Reinigungsmittel. Alles war bisher
staatlich gesteuert. Im Gegensatz zum Bazar. Dort war das Angebot
bunter und reichhaltiger. Da konnte man gegen teures Bares so ziemlich
alles kaufen oder tauschen. Nachdem die Deutschen jetzt hier waren,
wurde es sogleich besser. Eins blieb in den bereits sozialistisch angehauchten
Schädeln dennoch. Wenn die Leute vor einem Laden eine immer
größer anwachsende Schlange Menschen sahen, reihten sie sich automatisch
an das Ende. Ein Phänomen, welches zur Gewohnheit geworden
war.
Die Jungs grinsten und liefen vorbei. Nun war es spät geworden und
der Haufen beschloss, sich auf den Heimweg zu begeben, da es schnell
dunkel wurde.
Zuhause angekommen, war unvorhergesehener Besuch da. Rita und
Reinhold, Verwandte von Arthur und seinen Eltern. Beide lernten sich
erst kürzlich bei ihrer neuen Arbeitsstelle, dem SD – Sicherheitsdienst
–, kennen. Dort waren sie als Dolmetscher für die Besatzer tätig. Als
Arthur kam, unterbrachen sie die Unterhaltung prompt. Er musste
sich nach dem Waschen und Gutenachtsagen ins Bett seiner Eltern, zur
Oma, begeben. Das weckte seine Neugierde erst recht und er klebte mit
dem Ohr an der Tür, um zu lauschen, was da so getuschelt wurde. „Der
Tenor unserer `Arbeitgeber´, versuchen wir es mal wörtlich genau so
wiederzugeben, ist die Freimachung bearbeiteter Gebiete von Juden,
Kommunisten und Partisanengruppen. Auch kommunistische Russland-
Deutsche wurden verhört und abgeführt. Die Meinung der SD
(Sicherheitsdienst)-Leiter über die Ukrainedeutschen ist die, dass man
kein ausgeprägtes Deutschbewusstsein feststellen könne. Die
rassenhygienischen Maßnahmen, die Entjudung der Dörfer und das Verdrängen
der Fremdstämmigen müsse man selber durchführen. Die Mehrheit
der Ukrainedeutschen wüsste nicht einmal den Namen des Führers,
lediglich der Hass gegen die Sowjets führe sie in die deutschen Reihen.
Ein Unterschied zwischen Gestapo und NKWD (Sowjet. Geheimdienst)
sei denen fremd. Beide würden gleichermaßen verachtet. Man könne keine
ausgereiften, ideologischen Ziele bei den Deutschukrainern erkennen.
Nur wenige dieser Ukrainedeutschen können nach sorgfältigster
Auslese einmal wertvolle Aufgaben erfüllen. Als Reichsbürger eher
unwahrscheinlich geeignet. Mit Befremden müsse der SD feststellen,
dass man die Juden nicht freiwillig ausliefere, ja, es komme vor, dass
man diese Geißel der Menschheit sogar vor dem Zugriff der Einsatzeinheiten
verstecke. Jetzt solle ein volksdeutscher Selbstschutz aufgebaut
werden. Männer zwischen 15 und 45 Jahren sollen rekrutiert werden.
Ausgerüstet mit Beutewaffen. Zu erkennen seien diese dann an Armbinden.
Aber nicht uniformiert.
Für eine arische Uniform taugten die Ukrainedeutschen nun wirklich
nicht. So sprechen diese Menschen über uns. Und wie haben wir sie
empfangen? Mit Freude und offenen Herzen. Für uns Ukrainedeutsche,
die dort arbeiten, ist das alles wie in einer Zentrale des Schreckens
und wir fürchten uns jetzt mehr denn je. Das Treiben dieser, wie nennen
sie sich jetzt arrogant: `Herrenmenschen´, können wir doch nicht
gutheißen, oder?“ Hektisch und nervös wechselten sich da Rita und
Reinhold beim Erzählen ab. „Und dennoch fielen mir und Reinhold bei
manchen Ukrainedeutschen eine erschreckende Blutgier bei der Judenhatz
auf“, sprach beunruhigt Rita. „Sogar Kinder und Greise treiben sie
zusammen, um sie zu töten“, fügte sie hinterher. „Was müssen wir noch
alles durchstehen, erst die Bolschewiken und dann das hier“, konnte
Arthur seine Mutter flüstern hören.
Am anderen Morgen nach der Schule konnte Arthur mit seinen Kumpels
ein bizarres Bild wahrnehmen, welches aber zur Routine werden sollte.
Entlang der Allee-Bäume der Hauptstraßen knüpfte der SD politische
Kommissare und Partisanen auf. Wie die Girlanden hingen da massenhaft
baumelnde Körper. Die Jungs schauten erst die im Winde hin
und her schwingenden, leblosen Körper an, zuckten die Schultern und
warfen sich weiter beim Heimgehen den Lederball zu, welchen sie von
einem der Gebirgsjäger geschenkt bekommen hatten. Hin und wieder
pfefferten sie einen Stein in die Richtung der Gehängten. Mitleid hatten
sie mit den Bolschewiken wirklich keines. Es gab kaum eine Familie aus
der Bekanntschaft, welche nicht einen oder mehrere Angehörige durch
diese Gehängten oder deren Genossen verloren hatte. Nein, die lange
Zunge wurde nach den mit Schmeißfliegen umschwärmten Gehenkten
ausgestreckt. Gesichter als Grimassen verformt, äfften sie zu den Toten
hinüber. Das Einzige, was später ein wenig störte, war der widerliche
Gestank, welcher von den Aufgeknüpften ausging. Sie mussten als
Abschreckung baumeln bleiben. Das waren mittelbare Auswirkungen
des sogenannten `Kommissarbefehls´ vom OKW (Oberkommando der
Wehrmacht) an die kämpfende Truppe. Dieser sagte im Wesentlichen
aus, dass alle in Gefangenschaft geratenen politischen Kommissare der
Roten Armee als Träger der bolschewistischen Ideologie sofort erschossen
werden sollten. Oder so wie hier, aufhängen. So der Wille des OKW.
Ein Hauptmann, welcher unter Generalfeldmarschall v. Manstein diente,
erklärte einmal an der Bar des Sachsen, schon schön angesoffen, aber
doch noch geradeaus sprechend – Arthur hatte den begehrten Job an
der Bar intus und trocknete gerade Gläser ab: „Die Sauerei da draußen
ist nicht unser Bier. Unser Chef Manstein hat uns seine Einstellung so
eingebläut: Ein politischer Kommissar ist genauso wenig Soldat in meinen
Augen wie ein deutscher Gauleiter, auch eine Sau, hicks, welchen
man mir gerne mitgegeben hätte. Trotzdem werde ich den Befehl nicht
erteilen, diesen zu erschießen. Beide verachte ich sie zutiefst und ich
mag sie nicht. Beide sind gefährliche Fanatiker. Sie wollen den Krieg
aufs Härteste geführt sehen. Das ist blind und nicht soldatisch. Ebenso
nehme ich es mit dem Kommissarbefehl. Unsoldatisch von Grund
auf!
Die Ausführung solch eines Befehls gefährde nicht nur die Ehre,
sondern auch die Moral der kämpfenden Truppe. Dies gab v. Manstein
so denen da oben in Berlin weiter. Der Kommissarbefehl werde von
seinen Einheiten nicht ausgeführt. Basta. Das natürlich zum Schrecken
der arroganten Nazischreihälse. Vor dem Mann, hicks, habe ich Achtung.
Der ist kein Stiefellecker wie der Jodl oder der Keitel. Eitle Pfauen in Uniform. So erledigten halt die nachrückenden Sondereinheiten diese
Schweinereien. Das sind aber keine Soldaten. Die kennen die Front nur
vom Hörensagen. Soll mal so einer in die Kneipe hierher kommen. Den
packe ich an den Eiern. Hicks. Dummschwätzer. Komm, Arthur, schenk
noch eins ein. ’nen Doppelten. Wer weiß, wie lange ich das Stöffchen
noch in meinen Hals kippen kann.“ Diese Aussage musste bei Arthur
gesessen haben. Das war klasse, der Soldat sprach, was er dachte, und
behandelt mich wie einen Großen. So will ich auch mal werden. Aber
eigentlich komisch. Was ist denn dabei, die verhassten Bolschewiken
zu töten? Doch das mit den Juden, was er gehört hatte, traf Arthur hart.
Daheim angekommen, konnte Arthur seine Mutter über dem Küchentisch
liegen sehen, wo sie jämmerlich weinte. Schnell begab er sich zu
ihr, legte seinen Arm über ihre Schulter und fragte, was denn los sei.
„Der SD hat alle Kinder auf den Schulhof getrieben und den kleinen
David samt seiner Schwester mitgenommen. Die waren doch gerade
mal sechs und sieben Jahre. Ich flehte sie an, dass es liebe Kinder seien.
Es seien keine Kinder, sondern dreckige Juden, sagten sie. Es half alles
nichts, sie wurden auf den Lkw verfrachtet, abgeführt und ins Lager
gebracht. Das Schreien der Kinder war schrecklich. Und immer wieder
riefen sie nach mir. Meinen Namen. Frau Engel, Frau Engel. Helfen
Sie uns, helfen Sie uns. Fürchterlich. Ich konnte doch nichts tun.“ Der
Sohn nahm seine verzweifelte Mutter in die Arme und tröstete, so gut
es ging. Arthur sprach aus, was er dachte: „In meinem Leben gibt es
bisher nur Mord und Totschlag. Ohne eine vernünftige Erklärung sind
Menschen geradezu besessen, Schwächere umzubringen, soll das denn
ewig so weitergehen?“ Das willkürliche Morden der Bolschewiken war
ihm genauso zuwider wie das Ermorden der Juden durch die deutschen
Einsatzgruppen. Unglaublich. Das konnten keine echten Deutschen
sein. Er selbst hatte früher einige jüdische Freunde gehabt und das waren
feine Kerle. Gott sei Dank tauchten die unter oder verschwanden
mit ihren Eltern auf Nimmerwiedersehen. Zumindest redete er sich das
ein. Eine schreckliche, grausame Zeit.
Freilich verbesserte sich die Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse,
den Bauern wurde weitgehend freie Hand gegeben, wie
sie ihr Feld zu bestellen hatten, Beutegerätschaften wurden zur Verfügung
gestellt und der Magen knurrte nicht mehr so wie früher. Trotzdem
merkte man den Soldaten nach einigen Wochen eine allgemeine Unruhe und Nervosität an. Die 6. Armee unter Generalfeldmarschall
Paulus wurde bei Stalingrad eingekesselt und man hörte nichts Gutes.
Die Stadt Rostow wackelte. Es tauchten schon erste feindliche Panzer bei
Noworscherkask auf, nachdem sie die befreundeten Kosakenverbände
durchbrochen hatten, also unmittelbar vor Rostow. Das sind keine 200
km bis Mariupol. Auch die Mutter und Arthur beruhigte die Situation
nicht gerade, dass die deutsche Heeresgruppe Don ordentlich verschüttelt
wurde. Die eiligst herbeigeführte 4. Panzerarmee konnte dem Einhalt
gebieten, aber wie lange noch? Die rumänischen und italienischen
Kampfverbände befanden sich bereits in unkontrollierter Auflösung.
An der Bar hörte er wahrlich nichts Erfreuliches von einigen deutschen
Landsern und Verwaltungsbeamten, die nervös, hektisch rauchend
und schnell miteinander sprachen und sich schön eins in die Birne
kippten.
Mariupol am Asowschen Meer unter deutscher Besatzung.
Bei vielen Deutschstämmigen war Kofferpacken angesagt. Sie hatten
Angst. Todesangst. Die Heeresgruppe B am mittleren Don erlebte in
diesen Tagen eine Katastrophe nach der anderen, als der von der ungarischen
Armee gehaltene Frontverlauf zusammenbrach. Für Arthur
und seine Mutter stand der Entschluss fest. Wir bleiben nicht. Der Rückzug war nur noch eine Frage der Zeit und sie wollten sich der Wehrmacht
beim bevorstehenden Rückzug anschließen. Doch noch war es
nicht so weit. Die 1. Panzerarmee schlug erneut die Sowjets bei Karmatorskaja
zurück und half der 11. Panzerdivision bei Slavjansk aus der
Patsche. Dies waren aber gerade mal 150 km Luftlinie bis nach Mariupol.
In einer Art Zangenbewegung versuchten die Sowjets die Schlinge
fester zu ziehen. Die Bahnlinie zwischen Dnjepropetrowsk und Krasnoarmeiskoje
war bereits unterbrochen, was die Situation der deutschen
Truppen weiter verschlechterte. Für Arthur und seine Mutter bedeutete
dies, dass die Front bereits im Rücken von Mariupol lag. Freilich erfuhr
Arthur nicht viel von dem Kampfgeschehen, aber es sickerte immer mal
was durch. Gespannt saßen die Jungs zusammen, ein jeder wusste was
und man machte sich wieder etwas Hoffnung. Zweckoptimismus. Bis
zum 1. März konnte man die Sowjets wieder hinter den Donez zurückdrängen
und es juckte die deutschen Einheiten, über den zugefrorenen
Fluss den flüchtenden Sowjets nachzujagen. In Mariupol beruhigte sich
durch die erfolgreiche Frontmeldung die Lage wieder ein wenig. Vielleicht
können wir doch in Mariupol verbleiben, mochten sich Arthur
und seine Mutter gedacht haben. Es war aber eine Frage der Zeit, wann
die Front hier erneut zusammenbrechen würde. Schlug man der Hydra
einen Kopf ab, wuchsen sofort zwei neue nach. Die Ressourcen an
Mensch und Material waren auf sowjetischer Seite unermesslich groß.
Das Vorhaben, sich die begehrten Ölquellen am Kaukasus einzuverleiben,
war nicht geglückt. Die Informationen von der Westfront waren
ebenfalls nicht beruhigend. Man hörte immer wieder von Frontsoldaten,
dass im Sommer eine neue, große Offensive gegen die Sowjets
in Planung sei. Doch Operation `Zitadelle´, ein letztes Aufbäumen der
deutschen Wehrmacht, scheiterte.
Koffer packen
Jetzt hieß es endgültig Koffer packen. Mit den ersten Truppen der
Heeresgruppe A, welche den Rückzug organisierten, flüchtete Arthur
mit seiner Mutter sowie der kranken Oma. Mit einem 24 Jahre alten
Wehrmachtsoffizier, Alois sein Name und Bayer, freundeten sich Arthur und seine Mutter schon des Längeren an. Arthur verbrachte gerne die
Zeit mit ihm beim Schach und er nannte seine Mutter Helene liebevoll
seine ` Mama´. Alois kratzte das Letzte aus den Kochtöpfen, so gut
schmeckte es ihm bei seiner „Mama“. Beim Schach, vor dem Eröffnungszug,
stopfte er sich genussvoll eine gebogene Pfeife voll gut riechenden
Tabaks, befeuerte den Inhalt mit einem langen Streichholz und paffte
in langen Zügen zum Königsspiel. Gewonnen hatte Knirps Arthur nie,
obgleich er sich sehr bemühte. Es sollte das letzte Schachspiel in Mariupol
sein.
In einem vollgeladenen Wehrmachts-Lkw, einem konfiszierten Renault-
Mannschaftswagen, ging es mit der Einheit von Alois los. Er hatte dies
organisiert und kümmerte sich um die Flüchtenden. Alois war auch ein
wenig molliger und lustiger als all die anderen Soldaten, die man mit
hängenden Köpfen einer unsicheren Zukunft entgegenschlurfen sah.
Auch hatte er immer ein Lächeln, ein gutgemeintes Wort auf seinen
Lippen und freudig dreinschauende Augen. Nun soll es wirklich losgehen.
Für Arthur war es aufregend und ein ordentliches Abenteuer. Die
Mutter und die verängstigte Oma mussten wieder einmal alles hinter
sich lassen und man spürte ihre Angst vor der Ungewissheit. Viel Hab
und Gut hatten sie eh nicht ansammeln können. Wieder keine Heimat.
Wie oft sollte sich das noch in ihrem Leben wiederholen? Kurioserweise
war die Verpflegung während der Fahrt in dem Renault nicht
nur gut, sondern ausgezeichnet. Es gab reichlich Wein und Schnaps,
geräucherten Schinken und gutes Brot. Zum Teil Beutegut aus Frankreich.
Cognac hatte der Alois sogar gebunkert und schenkte diesen
dem Lkw-Fahrer und den Flüchtlingen. Wie übrigens alle Lebensmittel
stammten diese von Alois, einem Organisationsgenie. Alois wurde
aber bald anderweitig eingesetzt. Tränen hatte er in den Augen, als er
den Abziehenden hinterherwinken musste. Seine Adresse in Oberammergau
gab er Arthurs Mutter noch. Er blieb für immer verschollen. Mit
dem Konvoi und der Truppe ging es nach Nikolajev. Der gigantische
Dnjepr bot ein natürliches Hindernis gegen die nachrückenden sowjetischen
Verbände. Zumindest bis zum Winter, solange der Strom nicht
zugefroren ist. Die Sowjets schafften es nicht, die deutschen Armeen an
dem Übergang zu hindern. So gelangen Arthur, seine Mutter und die
Oma nach Mähren in Tschechien…
Arthur Engel erlebte als Fallschirmjäger der französischen Fremdenlegion im 1er BEP den Krieg in Indochina und 1954 die Schlacht von Dien Bien Phu. Der Autor Terry Kajuko hat in dieser romanhaften Biografie die Erlebnisse seines Vaters verarbeitet.
Neben interessanten persönlichen Erlebnissen werden in diesem Buch, das über 250 Fotos und Karten beinhaltet, zahlreiche Fakten und Hintergründe des Indochina-Krieges, zur Schlacht in Dien Bien Phu und zur französischen Fremdenlegion erläutert.
„In Algerien zu Fallschirmjägern ausgebildet und nach Indochina verschifft, befanden sie sich in keinem gewöhnlichen Krieg, sondern in einem Dschungelkrieg des Mikrokosmos. Ein Krieg ohne
zusammenhängende Front. Das Einsatzgebiet eines Elitesoldaten, des Fallschirmjägers.
Im Norden, an der Grenze zu Laos und nicht weit bis China, schwebten die besten Kolonialtruppen in kürzester Zeit vom Himmel oder wurden auf der zusammengebauten Landepiste abgesetzt. Es war die
größte Luftlandeoperation im Indochina- und späteren Vietnamkrieg.
In der darauffolgenden Schlacht in einem Tal namens Điện Biên Phủ wurden bewegliche Kampfeinheiten in zusammengebastelten Erdbefestigungen untergebracht, welche in keinster Weise ausreichend
gegen Granatenbeschuss gesichert waren. Umzingelt von einer in Laufgräben geschützten und ausgezeichnet bewaffneten Übermacht, den Vietminh. General Giaps Artillerie feuerte völlig überraschend
aus gut getarnten Stellungen heraus, hoch oben in den Bergen, wo jede abgefeuerte Granate ein Treffer war.“
http://www.epee-edition.com/index.php/de/onlineshop/biografien-1/dien-bien-phu-detail
E-Book: http://www.epee-edition.com/index.php/de/onlineshop/ebooks/dien-bien-phu-ebook-detail